Das stumme Leiden
von Karin Wullenweber
Wie würden Sie reagieren, wenn Ihr Nachbar einen Hund seit Jahren in
einem Zwinger von der Größe eines Kinderlaufstalls halten würde und ihn
nur einmal am Tag herausholen würde, um ihn auf seinem Hundeplatz mit
Hilfe von Stachelhalsband und Peitsche über Hindernisse zu zwingen? Wenn
der Hund niemals mit anderen Hunden spielen oder einen freien Lauf
durch den Garten machen dürfte und jahrelang in seinem Käfig auf und ab
tigert? Sicher wären Sie empört. Und wenn Sie dann noch regelmäßig eine
ganze Gruppe solcher Leute auf dem Hundeplatz bei Wettkämpfen beobachten
könnten, die die Hunde unter Winseln und mit vor Angst eingezogenem
Schwänzen traktieren, damit sie die immer höheren Sprünge schaffen
und den Wettkampf gewinnen, und Familien mit Kindern das mit Applaus
und Bewunderung zollen würden, dann würden Sie sicher überlegen,
den Tierschutz zu informieren.
Diese Quälerei geschieht aber täglich und völlig öffentlich, ohne dass
jemand den Tierschutz ruft: mit Pferden. Was viele für Haustiere als
Tierquälerei wahrnehmen, halten sie bei Pferden für völlig legitim. Das
Geschilderte ist schrecklicher Alltag für Tausende von Reitpferden, die
in deutschen Reitschulen und –ställen unter schlimmen
Haltungsbedingungen und harter Behandlung stumm leiden. Vielleicht
denken Sie jetzt an verwahrloste, schmutzige Pferde, die auf schlammigen
Wiesen stehen und von ihren Besitzern geschlagen werden. Das gibt es ab
und zu auch, aber hier ist die Rede von den Massen an blitzsauberen
Pferden, die pflegeleicht und „ordentlich“ in ihren winzigen,
keine drei Schritte ermöglichenden Boxen, die nichts anderes sind als
Käfige oder Zwinger, parat stehen müssen, um als herausgeputzte
Sportgeräte ihren Reitern zur Verfügung zu stehen, die sie mit einem
Arsenal an Bewaffnung (scharfe Gebisse, Hilfszügel, Gerten, Sporen usw.)
zu „sportlichen Leistungen“ bringen. Sie werden ausstaffiert mit
farblich passenden Bandagen und Decken, aber das, was ein Pferd brauchen
würde, freie Bewegung auf großen Weiden in der Herde, sich wälzen,
grasen usw. wird ihnen verweigert.
Denn wie Tieren in der Massentierhaltung werden diesen Pferden jegliche
eigene Bedürfnisse abgesprochen, wenn diese bei der Nutzung hinderlich
sind. Isoliert in der Box stehend, können sie selbst die geringsten
arteigenen Verhaltensweisen nicht ausleben, und auf ihre Psyche wird
erst recht keine Rücksicht genommen. Wie Autos werden sie ge- und
verkauft und dabei ihre Leistungen und Körperdaten angepriesen. Die
Gefühls- und Gnadenlosigkeit von Reitern zeigt sich hier in vollem Maße.
Dass dieser Wechsel für das Individuum Pferd jedes Mal ein schwerer
Eingriff ist, dass man eine Beziehung zu dem angeblichen „Partner“, ja
sogar „Freund“ aufgebaut hat, spielt keine Rolle, wenn das Sportgerät
nicht nach Wunsch funktioniert oder ein anderes Modell her muss.
Schließlich sind Pferde ebenso wie Autos Statussymbole. Geht etwas an
dem Sportgerät kaputt, wird es erbarmungslos entsorgt. Nichts leichter
als das, denn schnell wird der Partner zum Schlachtvieh: Pferde kann man
schlachten lassen und braucht nicht umständlich nach einem vom
Tierschutzgesetz so genannten „vernünftigen Grund“ für die Tötung zu
suchen. Ein Teil landet, ebenso wie der überflüssige Zuchtausschuss, bei
Schlachtpferdehändlern und wird noch durch Europa gekarrt oder als
Schulpferde bis zur völligen Erschöpfung kommerziell eingesetzt.
Pferde sind Herden- und Bewegungstiere. Sie in Boxen zu isolieren und
ihnen ein Herdenleben zu versagen ist für sie genauso schlimm wie für
einen Hund im Einzelzwinger. Dieser aber heult und jault und tut uns
Leid. Das Leid der Pferde wird nicht gesehen, äußert es sich doch oft
nur in feinen Nuancen der Mimik oder des Ohrenspiels. Viele beginnen in
ihrer Not krankhaft die Wände zu lecken, gegen die Boxenwände zu
schlagen, entwickeln schließlich schwere Verhaltensstörungen wie koppen
oder weben. Aber statt Mitleid ernten sie harte Strafen für diese
„Unarten“, wie das in der Reitersprache heißt. Diese Sprache spricht
Bände über die Gnadenlosigkeit der Reiter, mit der sie ihre harten
Methoden schönreden. Da reißt nicht etwa jemand am Zügel, sondern er
„wirkt stärker ein“. Da wurden Pferde nicht vom harten, schlechten
Reiter stumpf gemacht, sondern diese Pferde sind „büffelig“ und
„unrittig“ und natürlich erfordert so ein „Büffel“ umso härtere
Maßnahmen.
Wir kennen dieses Prinzip aus der Jägersprache.
Pferde laufen von Natur aus täglich viele Kilometer – nicht im
Galopp, in Dressurschritten oder über Hindernisse, sondern in
gemächlichem Schritt, grasend. Wer sie zu 23stündigem Stehen verdammt
und sie dann eine Stunde lang in unnatürliche, äußerst anstrengende
Bewegungen zwingt, richtet sie zugrunde. Pferde haben eine natürliche
Lebenserwartung von etwa 30 Jahren, je nach Rasse. Schon mit 10 bis 12
Jahren, nach nicht mal einem Drittel ihres Lebens, sind viele Reitpferde
„verschlissen“, ruiniert von einer artwidrigen, aber dem Menschen
nützlichen Haltung und der gnadenlosen Überanstrengung für den
sportlichen Ehrgeiz der Reiter. Was wir Pferdeschützer an noch jungen,
aber schon völlig kaputten Pferden zu sehen bekommen, ist erschütternd.
Warum stört das niemanden? Das Bild einer Reihe von Pferdeköpfen, die
aus Gittern herausschauen, weckt in den meisten Menschen komischerweise
nicht den Mitleid erregenden Eindruck von Käfigen, in denen Tiere
bewegungs- und freudlos eingesperrt sind, sondern von Idylle und
Tierliebe.
Dass Rennreiter ihre Pferde im Hagel der Gertenschläge in die Zielgerade
prügeln, dass Springreiter ihre Pferde zwischen jedem Sprung mit aller
Kraft am Zügel reißen, so dass die Pferde in furchtbarem Schmerz die
Mäuler aufreißen, dass Dressurpferde mit vor Stress peitschendem
Schweif, vor Anstrengung schweißüberströmt, mit von scharfen Kandaren
schmerzhaft auf die Brust gezogen Köpfen und mit in den Bauch bollernden
Sporen durch die Bahn gequält werden, dass Polopferden in harten
Manövern brutal die Hälse verbogen und sie ebenfalls blutig gespornt
werden, dass Westernpferde mit Zäumungen, die ihnen leicht den Kiefer
brechen könnten, zu extremsten Stopps und Wendungen gedrillt werden: All
das scheint niemanden zu stören, ja es wird als edler Sport empfunden
und die Tierquäler werden als „Pferdefreunde“ bezeichnet und bewundert.
Warum ist das so? Dafür gibt es viele Gründe, angefangen beim Unwissen
der meisten Menschen (auch Reiter!) über die Bedürfnisse und die
Leidensbekundungen von Pferden, über gesellschaftliche Normen bis hin zu
einer Wahrnehmung, die von Gewohnheit geprägt ist. Seltsam und empörend
ist es in jedem Fall.
Leistungssport mit Tieren und auf deren Kosten zu treiben ist
grundsätzlich ein Anachronismus, der nicht mehr zulässig sein sollte.
Nicht als Leistungsport, sondern als Freizeitvergnügen betrieben, muss
Reiten auch nicht zur Tierquälerei werden. Viele Elemente der Dressur
dienten ursprünglich dazu, das Pferd so zu gymnastizieren, dass es den
Reiter gut tragen kann. Als das zum Sport wurde und sich so von seinem
Zweck gelöst hat, wurde es immer brutaler und für das Pferd sinnloser
und schädlicher. Ehrgeiz, Ruhm und Geld, um die es im Sport geht, sind
die fatalen Antriebe des Menschen, dem Pferd aber fremd. Viele Pferde
lieben es, Aufgaben zu bekommen, sich mit dem Menschen zu beschäftigen,
aber unter der Voraussetzung, dass sie freiwillig mitarbeiten dürfen.
Freiwilligkeit hat etwas mit freier Wahl zu tun, und nur wenn mit einem
Pferd mal wirklich frei (nicht in einer Reithalle oder im Roundpen,
sondern auf einer Fläche, auf der sich die Pferde dem Menschen entziehen
können), ohne Zaumzeug, ohne Peitsche etc. umgegangen wird, zeigt sich,
ob es sich um echte Freiwilligkeit handelt. Und natürlich sind die
Grenzen dort, wo natürliche Bewegungen überschritten werden. Einem Pferd
kann es Spaß machen, über ein kleines Hindernis zu hüpfen, aber was ist
"pferdefreundlich" daran, es zu Sprüngen zu zwingen, die nur mit
größter Anstrengung und jahrelangem hartem Training zu schaffen sind?
Pferde sprinten auch gern mal ein Stück, aber sie zum Zweck von
Geldwetten über Gewaltstrecken mit hohem, oft tödlichem
Verletzungsrisiko zu jagen muss als tierschutzwidrig verboten werden,
denn das fragwürdige Vergnügen und die Geldgier einiger Menschen ist
kein "vernünftiger Grund" für das große Leid der Rennpferde.
Ein anderer, pferdefreundlicher Weg ist möglich, und diesen Weg gehen
immer mehr Pferdebesitzer, denen es egal ist, ob ihr Pferd über ein noch
höheres Hindernis springen oder eine noch schwierigere Lektion
absolvieren kann. Die lieber Geld dafür ausgeben, dass ihr Pferd
artgerecht leben kann anstatt für die modischste Reithose. Die den
weiteren Weg zu einem gut geführten Offenstall in Kauf nehmen,
anstatt den Stall danach auszusuchen, ob er für den Menschen die meisten
Vorteile bietet.
Es gibt immer mehr Reiter, die bewusst auf die 24stündige Nutzbarkeit
ihres Pferdes verzichten, wenn dies dem Wohl ihres Pferds dient, die
ihrem Pferd Herdenleben, Weidegang, Winterfell und Barhufe lassen, auch
wenn dies die Nutzung einschränkt. Die ihr Pferd nicht mithilfe von
Ausrüstung unter Kontrolle haben wollen, sondern mit ihm möglichst frei
und ungezwungen kooperieren wollen. Und das ist letztendlich auch die
hohe Kunst des Reitens.
Was können wir tun?
Es wird Zeit, dass Tierschützer und Tierschutzvereine gemeinsam etwas
unternehmen gegen die Qual der Pferde. Der große Umwelt-Journalist Horst
Stern hatte mit seinem bewegenden Buch „Bemerkungen über Pferde“ in den
70er Jahren deutschlandweit eine große Debatte über den Reitsport
ausgelöst – geändert hat sich kaum etwas, nur außerhalb des Sports ist
einiges in Bewegung gekommen. Das Bewusstsein vieler Menschen in Bezug
auf Tierschutz, Tierrechte etc. hat sich aber durchaus geändert. Es
kommt also nun darauf an, die Missstände im Reitsport flächendeckend
offen zu legen, Gesetze zu fordern (in der Schweiz ist eine reine
Boxenhaltung bereits verboten), den auf extreme Leistung sowie
kommerziellen Gewinn ausgerichteten Pferde“sport“ öffentlich zu ächten
und vor allem, das Bewusstsein und die Wahrnehmung der Menschen durch
Aufklärung und Information zu schärfen.
Denn wenn das „Winseln, Jaulen und Schreien“ der Pferde von den Menschen
wahrgenommen würde, würde der Applaus verstummen und wären viele
Pferdesportarten sowie viele Reitställe längst verboten.
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