Tierethische Positionen
Dürfen wir das Wohl und Leben der Tiere unseren Zwecken unterordnen? Oder müssen wir Tiere auf die gleiche Weise moralisch berücksichtigen wie Menschen? Jens Tuider und Ursula Wolf führen in Grundfragen der Tierethik ein.In der alltäglichen Moral und im Recht hat sich inzwischen die Auffassung durchgesetzt, dass Tiere als fühlende Wesen um ihrer selbst willen moralisch zählen. In Deutschland und der Schweiz ist dieser sogenannte ethische Tierschutz sogar in der Verfassung verankert. Gleichzeitig ist aber immer noch die aus der christlichen Tradition stammende Überzeugung von einem speziellen Wert des Menschen verbreitet. So heißt es im Deutschen Tierschutzgesetz §1: "Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen." Das Tier wird also einerseits als Wesen gesehen, das wie wir lebt und sein Wohl sucht. Andererseits wird mit dem Verantwortungsbegriff aber auch dem Menschen eine Sonderstellung zugeschrieben, mit der Schutzpflichten, aber auch Nutzungsrechte verbunden sind. Denn weiter lautet die Bestimmung: "Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen." Ein "vernünftiger Grund" ist aber nicht immer ein moralisch relevanter Grund. Wo bleibt dann der Schutz der Tiere um ihrer selbst willen?
Offensichtlich liegt also in den derzeitigen Vorstellungen eine gewisse Spannung, die man in zwei Richtungen bereinigen könnte. Die eine Richtung betont die Besonderheit des Menschen, macht bestimmte personale Fähigkeiten zum Kriterium für die Zugehörigkeit zur Moral und trägt der Einbeziehung der Tiere durch indirekte Hilfsargumente Rechnung. Die andere betont die eigenständige moralische Bedeutung der Tiere und sucht nach einer Konzeption, welche die Rücksicht auf Tiere konsequent zu Ende denkt, wobei häufig ein gleicher moralischer Status für Mensch und Tier angenommen wird.
Indirekte Argumente für die Rücksicht auf Tiere
Kants Vernunftmoral
Kant erklärt die Sonderstellung des Menschen nicht religiös.Vielmehr gründet für ihn die Würde des Menschen darin, dass dieser nicht nur in der Erfahrungswelt lebt, sondern Anteil an der Welt der Vernunft hat, die einen absoluten Wert besitzt. Während unsere Antriebe in der Erfahrungswelt den Kausalgesetzen unterworfen sind, sind wir als Mitglieder der Vernunftwelt autonom, d.h. wir besitzen die Fähigkeit, uns selbst das Moralgesetz zu geben. Sofern alle Wesen mit dieser Fähigkeit eine Würde haben, ist das Moralgesetz gleichbedeutend damit, dass wir alle vernünftigen Wesen nie nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck behandeln sollen. Da Tiere keine Vernunftwesen sind, kommt ihnen nach Kant nur ein relativer Wert zu, sie sind nur Mittel für Personen, und er bezeichnet sie daher als Sachen. Dennoch spricht er sich aus indirekten Gründen für die Rücksicht auf Tiere aus, nämlich mit dem Verrohungsargument: Wer Tiere misshandelt und ihnen gegenüber grausam ist, wird moralisch abstumpfen und dann auch im Umgang mit direkten Gegenständen der Moral, also menschlichen Personen, zu Grausamkeit tendieren. Die diesem Argument zugrundeliegende Annahme einer Analogie zwischen Menschen und Tieren ist aber nur sinnvoll, wenn man die Vernunft als eine in der Evolution entstandene Fähigkeit ansieht und sie nicht wie Kant in einer höheren Welt ansiedelt.
Moral als Vertrag
Der Kontraktualismus setzt nur die zweckrationale Vernunft voraus. Er besagt, dass es im vormoralischen Interesse rationaler Individuen ist, sich auf Normen wechselseitiger Rücksicht zu einigen, weil der Vorteil, den der Gewinn an Sicherheit vor Übergriffen bedeutet, den Verzicht überwiegt, der in der Einschränkung der eigenen Interessen mit Rücksicht auf die Interessen der anderen liegt. Solche Abmachungen können nur Wesen schließen, die über Sprache, die Fähigkeit zum Einhalten von Versprechen usw. verfügen, also Wesen, die man als Personen bezeichnen kann. Tiere haben diese Fähigkeiten nicht und können daher in dieser Konzeption wechselseitiger Rechte und Pflichten keine Rechte haben, nicht direkt Gegenstand moralischer Rücksicht sein. Man müsste vielmehr die Vertragskonzeption durch andere Gesichtspunkte ergänzen, z. B. dadurch, dass wir die Tugend des Mitgefühls als motivationale Grundlage brauchen und dass in deren Inhalt die Ausdehnung auf alle fühlenden Wesen angelegt ist (Carruthers). Aus dieser notwendigen Ergänzung ergibt sich, dass Tiere, auch wenn sie nicht die Fähigkeiten besitzen, die moralische Akteure auszeichnen, aufgrund ihrer Leidensfähigkeit ohne weiteres Gegenstände moralischer Rücksicht sein können (vgl. das "pathozentrische" Argument in Krebs, Naturethik).
Direkte Argumente für die Berücksichtigung der Tiere
Mitleidsethik
Eine direkte Ausdehnung der Moral auf Tiere auf dieser Basis finden wir in Schopenhauers Mitleidsethik. Dieser betont gegen Kant, dass moralisches Handeln sich nur verstehen lässt, wenn wir ein empirisches Motiv dafür finden können. Er verweist auf altruistische Gefühle, genauer auf den natürlichen Affekt des Mitleids, in welchem wir direkt auf das Wohl anderer fühlender Wesen bezogen und von ihrem negativen Erleben betroffen sind. Allerdings ist das Mitleid wie alle Affekte launisch und kann daher nur zur Grundlage einer moralischen Position werden, wenn es zu einer dauerhaften Einstellung, einer Tugend verfestigt wird. Die Mitleidskonzeption ist dadurch gekennzeichnet, dass sie den ethischen Tierschutz zum Inhalt hat, d. h. die Rücksicht auf individuelle Tiere um ihrer selbst willen. Damit dürfte sie diejenige Grundlegung der Tierethik sein, die am besten an die im Alltagsbewusstsein und im Recht verankerten Vorstellungen anknüpft. Die Anwendbarkeit des Mitleids auf alle Wesen, die ein Wohl haben, ergibt weiterhin einen gleichen moralischen Status für Menschen und Tiere. Andererseits bleibt die Stärke ihrer Konsequenzen offen, da sich allein aus einer altruistischen Haltung einer Person weder moralische Forderungen an andere Personen noch Rechte der betroffenen Wesen ableiten lassen (Tugendhat).
Utilitarismus
Den Anstoß zur heutigen Tierethik-Debatte hat Peter Singers utilitaristische Position gegeben. Für den Utilitarismus ist moralisches Handeln auf das Ziel der Nutzenmaximierung bezogen. Der Nutzen wird im klassischen Utilitarismus bei Bentham als Lust, in Singers sog. Präferenzutilitarismus als Interessenbefriedigung interpretiert. Am besten ist dann diejenige Handlung, die insgesamt die beste Bilanz von Lust/Unlust bzw. die meisten befriedigten Interessen zur Folge hat. Die Voraussetzung dafür, Lust empfinden oder Interessen haben zu können, ist die Empfindungsfähigkeit, womit Tiere eingeschlossen sind. Da Singer neben dem Maximierungsprinzip einen Gleichheitsgrundsatz voraussetzt, zählen im Rahmen des Kalküls alle empfindungsfähigen Wesen gleichermaßen. Wer Tiere schwächer gewichtet, weil sie keine Personen sind, zieht sich den Vorwurf des Speziesismus (Bevorzugung der eigenen Spezies) zu (so auch schon Ryder). Denn Menschen (z. B. Neugeborenen oder Dementen) gestehen wir auch dann einen vollwertigen moralischen Status zu, wenn sie nicht die Fähigkeiten von Personen haben. Wenn wir Tiere, welche ähnliche oder sogar höhere intellektuelle Fähigkeiten haben, schwächer berücksichtigen, weil sie nicht der menschlichen Gattung angehören, liegt, so Singer, eine unbegründete Diskriminierung vor, die strukturelle Ähnlichkeiten mit anderen Formen der Diskriminierung wie dem Rassismus oder Sexismus aufweist.
Unterschiede gibt es für Singer allerdings in der Tötungsfrage. Denn hier bewirken die besonderen Fähigkeiten von Personen, ihr Verfügen über Selbstbewusstsein und Zukunftsbezug, ein spezifisches Interesse am Weiterleben. Das gilt nicht nur für menschliche Personen, sondern auch für Tiere mit hohen intellektuellen Fähigkeiten, insbesondere Primaten. Wesen, die solche Fähigkeiten nicht haben, lässt sich kein explizites Interesse am Weiterleben zuschreiben, weshalb Singer ihre Tötung (wenn sie Leiden vermeidet) für unbedenklich hält, wenn das getötete Wesen durch ein neues Wesen mit vergleichbarem oder höherem Beitrag zum Gesamtnutzen ersetzt wird. Prinzipiell ist im Utilitarismus weder die Leidenszufügung noch das Töten von Tieren ausgeschlossen, solange der Gesamtnutzen dadurch befördert wird. Dass Singer die meisten etablierten Tiernutzungspraktiken ablehnt, liegt daran, dass das damit verbundene Leiden der Tiere den Nutzen für Menschen bei weitem überwiegt. Problematisch am Utilitarismus ist, dass er individuelle leidensfähige Wesen lediglich als Träger von verrechenbaren Interessen betrachtet, wohingegen diese nach alltäglicher Vorstellung vor Nutzenstrategien zu schützen sind (siehe auch den Beitrag Argumentationslinien der praktischen Philosophie).
Theorie der Tierrechte
Diese Vorstellung kann am besten eine Konzeption moralischer Rechte erfassen, wie sie Tom Regan entwickelt. Regan nimmt Kants Begriff der Autonomie auf, versteht ihn aber weiter, nämlich als sogenannte Präferenzautonomie. Diese besitzen nicht nur Personen, sondern alle Wesen, die Präferenzen und Wünsche haben und Handlungen in Gang setzen können, die auf die Befriedigung dieser Wünsche ausgerichtet sind. Regan bezeichnet Wesen, welche diese Form der Selbstbestimmung besitzen, als "Subjekte-eines-Lebens". Hierzu zählen für Regan nicht nur Personen, sondern alle Menschen und ebenso alle geistig ‚normal‘ entwickelten Säugetiere (außerdem Vögel und eventuell Fische) ab dem Alter von einem Jahr. Diesen Wesen kommt laut Regan ein "inhärenter" Wert zu, d. h. ein Wert, der unabhängig ist von ihrer Nützlichkeit. Der inhärente Wert ist nicht nach Höhe der Fähigkeiten abgestuft, sondern für alle Wesen mit Präferenzautonomie derselbe. Für Regan begründet die Tatsache, dass ein Wesen inhärenten Wert besitzt, ein moralisches Recht, d. h. einen Anspruch darauf, mit Rücksicht behandelt zu werden bzw. nicht instrumentalisiert zu werden. Entsprechend ist Regan der Auffassung, dass sämtliche Tiernutzungspraktiken abzulehnen sind.
Ähnlich wie Singer zieht auch Regan in der Tötungsfrage ein Zusatzkriterium heran. So unterscheidet er zwischen Personen und nicht-personalen Wesen und kommt zu dem Schluss, dass für kognitiv überlegene Wesen mit einem reicheren geistigen Leben – wie Personen – der Verlust ihres Lebens einen größeren Schaden bedeutet als für nicht-personale Wesen. Daher ist in Konfliktsituationen, in denen nur entweder eine Person oder ein Tier gerettet werden kann, der Person der Vorrang zu geben.
Regans Konzeption wird der wichtigen Vorstellung gerecht, dass moralischer Schutz Individuen gilt und die Form von Rechten hat, die starke Schutzzonen markieren und dadurch das Handeln moralischer Akteure einschränken. Problematisch ist jedoch die Annahme eines gleichen inhärenten Werts, welche mit Bezug auf die Tiere bisher nicht von allen geteilt wird. Teilweise wird auch die Verwendung des Rechtsbegriffs mit Bezug auf Tiere als unsinnig kritisiert, mit dem Argument, dieser Begriff sei wesentlich auf Menschen bezogen, weil nur sie die Fähigkeit zum moralischen Urteilen besitzen. (Cohen). Dagegen radikalisieren andere Autoren Regans Auffassung dahingehend, dass Tiere im Hinblick auf Gerechtigkeit in die Moral gehören (Nussbaum) oder sogar Bürgerrechte erhalten sollten (Donaldson/Kymlicka). Was sind überhaupt moralische Rechte? Heute glauben nur noch wenige, dass solche Rechte in der Realität oder von Natur aus vorgegeben sind. Ohne eine solche Annahme bedeutet ein moralisches Recht einfach, dass man aufgrund geeigneter Kriterien Gegenstand der Moralprinzipien ist (dass ein Wesen ein moralisches Recht hat, nicht verletzt zu werden, bedeutet dann, dass die Norm "Verletze niemanden!" auf es anwendbar ist). Der Begriff des Rechts ist dann genau genommen nur eine Abkürzung. Dennoch ist seine Verwendung in praktischen Zusammenhängen wichtig, weil sie den Anspruch auf rücksichtsvolle Behandlung betont. Verwenden wir den Begriff eines moralischen Rechts in diesem harmlosen Sinn, entfällt allerdings Regans Basis der Gleichheit, und es bleibt dann die Frage offen, wie man zwischen dem Anspruch des ethischen Tierschutzes und der Überzeugung vom Wert des Menschen vermitteln kann.
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