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Sogenannter Stierkampf: Welt-Torturerbe statt Welt-Kulturerbe

Von:
"Wasmut Reyer" <tierschutz-politik@t-online.de>
An:
"Edgar Guhde" <edgar.guhde@web.de>
CC:
"Wasmut W. Reyer" <wasmut-reyer@web.de>
Datum:
22.11.2013 04:17:06
Lieber Herr Guhde,
 
anbei mein in einigen Punkten gekürzter und durch einen Beitrag von Marie -France Kuss-Romanens ergänzter Beitrag zur erschreckenden Stierkampf-Nachricht aus Spanien mit der Bitte um Übernahme in Ihren Verteiler.
 
Danke und beste Grüße
 
Wasmut Reyer
 
 

 
Die Nachricht von Spaniens Entscheidung für "Stierkampf als Kulturgut" (s.u.) sollte bei uns nicht nur Zorn und Empörung auslösen, sondern uns endlich auch zu allgemein vermittelbaren Antworten auf  grundsätzliche, sowohl  politische als letztlich auch   philosophisch-ethische Fragen führen. Es ist nicht zu vermeiden, daß sie letztlich "ans Eingemachte gehen":
 
1.   Daß sich die sonst tierschutzfreundlichen spanischen Sozialisten der Stimme enthalten und dadurch diesen Ausgang ermöglicht haben, ist vermutlich auf eine verunsichernde, womöglich sogar irreführende, jedoch eindrucksvolle Argumentation der Regierungspartei zurückzuführen. –  Die Konsequenz: Wenn die ohnehin schon immer egoismusbedrohten Pflänzchen ethisch orientierter politischer Forderungen in der EU überhaupt eine Erfolgschance bekommen sollen, müssen wir auf irgendeine Weise dafür sorgen, daß die hinterhältig geplanten, publikumswirksam "plausibel" erscheinenden Mehrheits-Argumente rechtzeitig als irreführend und durch Ego-Interessen bedingt entlarvt werden. Die Abstimmenden müssen darüber breitestmöglich informiert werden. Ethisch orientierte Argumentionsanalyse, kombiniert mit  kluger Aufklärungstechnik tut also not! * Dabei müssen alle hierfür geistig begabten Tierschutzaktivisten ihre häufig praktizierte Eitelkeit und Geltungssucht endlich einmal hintan stellen und in solidarischer Weise zusammenarbeiten. Petitionen alleine sind hierbei nur nützliche Vorarbeit und Begleitmusik, können  jedoch in keiner Weise die geistige Durcharbeitung und Bewältigung der hier zu überwindenden Probleme ersetzen. Im übrigen müssen wir nüchtern werden und erkennen: Petitionen können auch nach hinten losgehen: Die Anti-Tierschutzfront hat ein einziges Mal die finanziellen Muskeln spielen lassen, und prompt hat sie 600.000 Stimmen auf ihrer Seite! 
 
2.  Viele Kommentatoren vermuten sicher nicht unbegründet, daß die Entscheidung in Madrid auch eine Revanche für das in der Provinz Katalonien beschlossene, ethisch fortschrittliche Verbot der irreführend "Stierkampf" genannten Ritualtortur mit anschließendem Stiermord ist. Hier wurde auf dem Rücken hochsensibler Tiere eine Art innerspanischer Kulturkampf ausgetragen. Das kann niemanden kaltlassen, der als ethisch aufgeklärter Mensch gelten möchte und deshalb selbstverständlich Folter, Marter und qualvolle Todesarten energisch ablehnt und nicht Schuld durch bewußtes Wegschauen auf sich laden will. Wenn innerhalb eines Staates Wertvorstellungen zu Konflikten führen, haben diesbezüglich Außenstehende zunächst kein Recht, hier einzugreifen. Dies gilt jedoch nur insoweit, als die Folgen nur die Konfliktparteien selbst betreffen und keine von ihnen um fremde Hilfe bittet. Sind jedoch wehrlose Dritte, vor allem Lebewesen, die keinerlei Bedrohung von Menschen darstellen, die Opfer, so darf sehr wohl von außen versucht werden, in diesen Kampf einzugreifen, wenn auch nicht mit militärischen, sondern mit geistigen, notfalls auch wirtschaftlichen Mitteln. Dies ist insbesondere dann geboten, wenn  der betreffende Aggressor – hier also das Parlament und der Senat Spaniens – nach außen gerichtet Werte in Anspruch nimmt, die er innerstaatlich verletzt oder gar mißachtet. Ein moralisch gebotenes Eingreifen gilt erst recht, wenn er dafür auch noch eine materielle Unterstützung von außen beansprucht (z.B. Fördergelder der EU). – Die Konsequenz: Die sich offiziell zum Tierschutz als Kulturwert bekennende Europäische Union darf eine Verletzung einhellig (!) akzeptierter und widerspruchslos verkündeter Leitwerte nicht hinnehmen, sondern muß mit Sanktionen in steigender Intensität drohen bzw. – falls Vermittlungsverhandlungen scheitern – sie notfalls vollziehen.
 
3.  Das Beispiel der mörderischen Stiertortur zeigt einmal mehr, daß ein rein quantitativ ausgerichteten Demokratiemodell an seine blutigen Grenzen stößt.  Das evtl. brutale Niederstimmen des Meinungsgegners mit all seinen verhängnsivollen Folgen für Mensch und Tier muß durch ein fortschrittlicheres,  q u a l i t a t i v bestimmtes Demokratiemodell ersetzt werden. Schon vor über 200 Jahren wurde diese Denkrichtung deutlich formuliert: "Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen" (Friedrich Schiller im Schauspiel "Demetrius"). In der Gegenwart gibt es, wenn auch erst in Afrika, ein Modell, das sich diesem Ziel nähert: die sogenannte K o n s e n s d e m o k r a t i e. Sie wird in bestimmten Stämmen Afrikas praktiziert, weil ein bloßes Niederstimmen eines zahlenmäßig unterlegenen Meinungsgegners meist zu gefährlichem Unfrieden führt, wobei man sich dort aber letztlich nicht ausweichen kann. Deshalb wird ein Streitfall in Ruhe erörtert, die Positionen geprüft und eventuell so lange verändert, bis auch offensichtlich vernünftige Gegner zustimmen. Im europäisch bestimmten Kulturkreis der USA kennen wir Ähnliches vom Schwurgericht, wo juristische Laien ein  e i n s t i m m i g e s Urteil abgeben müssen.  Bei grundlegenden Meinungsverschiedenheiten darf Zeit keine entscheidende Rolle spielen! Und persönliche Feindseligkeiten müssen durch gründliche Mediator-Arbeit so abgemildert werden, daß eine Einigung möglich wird. Entscheidungen  zuungunsten wehrloser Opfer oder von Lebewesen o h n e Fürsprecher müssen verboten werden. – Solange jedoch  solche Modelle nicht eingeführt sind, ist es ein ethisches Gebot, nach dem Prinzip der größtmöglichen Schonung bzw. Vermeidung möglicher Opfer zu entscheiden, im Zweifelsfalle also f ü r die potentiellen Opfer, nicht gegen sie.
 
4.  Die mörderische Stiertortur führt letztlich zur Frage, ob der von Politikern aus geistiger Bequemlichkeit oder Opportunismus vielbeschworene ethische Relativismus grenzenlos sein darf ("Jeder darf entscheiden, wie er will, alles ist relativ"), also z.B. Ex-BundeskanzlerHelmut Kohl sagen durfte, daß das Lebendbraten von Katzen oder Hunden  in Korea nicht moralisch verurteilt werden dürfe, da es sich eben um eine "andere Kultur" handele. Hier´ist die praktische Philosophie zu einem längst überfälligen Konsensdialog aufgerufen. Solange sie uns aber einen diesbezüglichen Konsens schuldig bleibt, sind wir zumindest berechtigt, wenigsten eine in sich logisch widerspruchslose Meinungsposition zu fordern. Die aber ist nicht gegeben, wenn dieselben Politiker ihre Leitwerte immer wieder wechseln, wenn es ihnen nützlich erscheint. Sie fordern  z. B. Toleranz gegenüber "fremden Werten", propagieren diese Toleranz jedoch auch dann, wenn die Vertreter fremder Wertvorstellungen unsere eigenen Leitvorstellungen im Namen eines "Gottes" oder einer sonstigen Überwertigkeit n i c h t tolerieren oder sogar offen vernichten wollen. Solange die EU eine Tier-S c h u t z-Politik betreiben will – und dies behauptet die EU-"Regierung" ganz deutlich – kann sie nicht zugleich eine Politik der akzeptierten oder gar finanziell geförderten  Tier-T o r t u r betreiben.
 
Mein Fazit: Auf der Basis der von der EU selbst verkündeten Werte läßt sich das unter dem Propagandabegriff Stierkampf beschlossene spanische Stiergemetzel nie und nimmer rechtfertigen, sondern muß auf die denkbar schärfste Opposition  aller redlich Denkenden und ethisch Empfindenden stoßen. Wer hier nur zuschaut, macht sich schuldig.
____
 
* Marie-France Kuss schlägt für die Argumentationspraxis folgende Punkte vor; ich schließe mich ihr hier gerne an:
  • Der Stierkampf ist archaisches Tun und archaisch ist ein Synonym von Primitiv.  Der Stierkampf feiert immer und immer wieder den Sieg des Menschen über das Tier.  Er läßt einen Krieg mit der ganzen Grausamkeit eines realen Krieges vor den Augen der Zuschauer als Ritual ablaufen und schlachtet den Besiegten, also den Schwächeren, ab mit der Grausamkeit des Primitiven.  Ist es das, was der moderne, zivilisierte Mensch haben will?  Ist das archaische Kultur?   . 
  • Der westliche, moderne Mensch ist sehr stolz auf die Aufklärung. Sie hat in Spanien den Stierkampf verurteilt (Rezension über das Buch "Spanische Geschichte" von Joseph Perez in "Le Monde" vom 10.. Januar 1997: ..."Et la corrida est condamnée par les Lumières").
  • Spanische Geschichte: Die spanischen Republikaner hatten den Stierkampf abgeschafft.
  • Papst Pius V. hatte mit seiner Bulle vom Jahre 1567 den Stierkampf verboten.  Die Bulle ist in Spanien nie veröffentlicht und demnach nie befolgt worden.  Dies wurde von Philipp II. verhindert.
Wasmut Reyer
(Liga für integrative Tierschutzpolitik
Tierschutzpolit. Sprecher ANIMAL ALLIANCE)
 
Süddeutsche Zeitung:
 
 7. November 2013 14:27

Schutz für umstrittenen Brauch Spanien erhebt den Stierkampf zum Kulturgut

San Fermin fiesta 
Umstrittener Brauch: Stierkampf im spanischen Pamplona
(Foto: dpa)

Tierschützer nennen es eine blutige Quälerei, Traditionalisten halten es für ein schutzwürdiges Kulturerbe: Der Stierkampf ist auch in Spanien umstritten. Nun hat Senat in Madrid Position bezogen - und den umstrittenen Brauch zum Kulturgut erklärt.

Spanien hat den Stierkampf zu einem "immateriellen Kulturgut" erklärt. Der Madrider Senat verabschiedete ein entsprechendes Gesetz, das den Stierkampf einem besonderen Schutz unterstellt.

Laut Medienberichten stimmten bei einer Abstimmung im Senat die regierenden Konservativen für das Vorhaben. Die Sozialisten enthielten sich, und die übrigen Parteien stimmten dagegen. Das Abgeordnetenhaus hatte dem Vorhaben bereits zugestimmt.

Das Gesetz sieht eine Reihe von Maßnahmen zum Schutz und zur Förderung des Stierkampfes vor. Die Regierung wird aufgerufen, einen "nationalen Plan" für die Stierkampf-Förderung aufzustellen. Außerdem soll sie sich dafür einsetzen, dass ein Antrag auf Aufnahme des Stierkampfes in die Unesco-Liste des immateriellen Weltkulturerbes der Menschheit gestellt wird.

Die Initiative zu dem Vorhaben war von einem Volksbegehren ausgegangen. Anhänger des Stierkampfes hatten dazu 600.000 Unterschriften gesammelt. Laut Zählungen von Tierschutzorganisationen sterben in Spanien bei etwa 2000 Stierkämpfen jedes Jahr etwa 30.000 Stiere.