Lieber Herr Guhde,
anbei mein in einigen Punkten gekürzter und durch einen
Beitrag von Marie -France Kuss-Romanens ergänzter Beitrag zur erschreckenden
Stierkampf-Nachricht aus Spanien mit der Bitte um Übernahme in Ihren
Verteiler.
Danke und beste Grüße
Wasmut Reyer
Der sogenannte
Stierkampf – Welt-Torturerbe statt Welt-Kulturerbe
Die Nachricht von Spaniens
Entscheidung für "Stierkampf als Kulturgut" (s.u.) sollte bei
uns nicht nur Zorn und Empörung auslösen, sondern uns endlich auch zu
allgemein vermittelbaren Antworten auf grundsätzliche, sowohl
politische als letztlich auch philosophisch-ethische Fragen führen.
Es ist nicht zu vermeiden, daß sie letztlich "ans Eingemachte
gehen":
1. Daß sich die sonst tierschutzfreundlichen spanischen Sozialisten
der Stimme enthalten und dadurch diesen Ausgang ermöglicht haben, ist vermutlich
auf eine verunsichernde, womöglich sogar irreführende, jedoch
eindrucksvolle Argumentation der Regierungspartei zurückzuführen. –
Die Konsequenz: Wenn die ohnehin schon immer egoismusbedrohten Pflänzchen
ethisch orientierter politischer Forderungen in der EU überhaupt eine
Erfolgschance bekommen sollen, müssen wir auf irgendeine Weise dafür
sorgen, daß die hinterhältig geplanten, publikumswirksam "plausibel"
erscheinenden Mehrheits-Argumente rechtzeitig als irreführend und durch
Ego-Interessen bedingt entlarvt werden. Die Abstimmenden müssen darüber
breitestmöglich informiert werden. Ethisch orientierte Argumentionsanalyse,
kombiniert mit kluger Aufklärungstechnik tut also not! * Dabei müssen alle
hierfür geistig begabten Tierschutzaktivisten ihre häufig praktizierte Eitelkeit
und Geltungssucht endlich einmal hintan stellen und in solidarischer
Weise zusammenarbeiten. Petitionen alleine sind hierbei nur
nützliche Vorarbeit und Begleitmusik, können jedoch in
keiner Weise die geistige Durcharbeitung und Bewältigung der hier zu
überwindenden Probleme ersetzen. Im übrigen müssen wir nüchtern werden und
erkennen: Petitionen können auch nach hinten losgehen: Die Anti-Tierschutzfront
hat ein einziges Mal die finanziellen Muskeln spielen lassen, und prompt hat sie
600.000 Stimmen auf ihrer Seite!
2. Viele Kommentatoren vermuten
sicher nicht unbegründet, daß die Entscheidung in Madrid auch eine Revanche für
das in der Provinz Katalonien beschlossene, ethisch fortschrittliche Verbot der
irreführend "Stierkampf" genannten Ritualtortur mit anschließendem
Stiermord ist. Hier wurde auf dem Rücken hochsensibler Tiere eine Art
innerspanischer Kulturkampf ausgetragen. Das kann niemanden kaltlassen, der als
ethisch aufgeklärter Mensch gelten möchte und deshalb selbstverständlich Folter,
Marter und qualvolle Todesarten energisch ablehnt und nicht Schuld durch
bewußtes Wegschauen auf sich laden will. Wenn innerhalb eines Staates
Wertvorstellungen zu Konflikten führen, haben diesbezüglich
Außenstehende zunächst kein Recht, hier einzugreifen. Dies gilt jedoch
nur insoweit, als die Folgen nur die Konfliktparteien selbst betreffen
und keine von ihnen um fremde Hilfe bittet. Sind jedoch wehrlose Dritte,
vor allem Lebewesen, die keinerlei Bedrohung von Menschen darstellen, die Opfer,
so darf sehr wohl von außen versucht werden, in diesen Kampf einzugreifen, wenn
auch nicht mit militärischen, sondern mit geistigen, notfalls auch
wirtschaftlichen Mitteln. Dies ist insbesondere dann geboten,
wenn der betreffende Aggressor – hier also das Parlament und der Senat
Spaniens – nach außen gerichtet Werte in Anspruch nimmt, die er innerstaatlich
verletzt oder gar mißachtet. Ein moralisch gebotenes Eingreifen gilt
erst recht, wenn er dafür auch noch eine materielle Unterstützung von außen
beansprucht (z.B. Fördergelder der EU). – Die Konsequenz: Die sich offiziell zum
Tierschutz als Kulturwert bekennende Europäische Union darf eine
Verletzung einhellig (!) akzeptierter und widerspruchslos verkündeter Leitwerte
nicht hinnehmen, sondern muß mit Sanktionen in steigender Intensität drohen bzw.
– falls Vermittlungsverhandlungen scheitern – sie notfalls vollziehen.
3. Das Beispiel
der mörderischen Stiertortur zeigt einmal mehr, daß ein rein
quantitativ ausgerichteten Demokratiemodell an seine blutigen Grenzen
stößt. Das evtl. brutale Niederstimmen des Meinungsgegners mit all seinen
verhängnsivollen Folgen für Mensch und Tier muß durch
ein fortschrittlicheres, q u a l i t a t i v bestimmtes
Demokratiemodell ersetzt werden. Schon vor über 200 Jahren wurde diese
Denkrichtung deutlich formuliert: "Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen"
(Friedrich Schiller im Schauspiel "Demetrius"). In der Gegenwart gibt es, wenn
auch erst in Afrika, ein Modell, das sich diesem Ziel nähert: die
sogenannte K o n s e n s d e m o k r a t i e. Sie wird in bestimmten Stämmen
Afrikas praktiziert, weil ein bloßes Niederstimmen eines zahlenmäßig
unterlegenen Meinungsgegners meist zu gefährlichem Unfrieden führt, wobei man
sich dort aber letztlich nicht ausweichen kann. Deshalb wird ein Streitfall
in Ruhe erörtert, die Positionen geprüft und eventuell so lange verändert, bis
auch offensichtlich vernünftige Gegner zustimmen. Im europäisch bestimmten
Kulturkreis der USA kennen wir Ähnliches vom Schwurgericht, wo juristische Laien
ein e i n s t i m m i g e s Urteil abgeben müssen. Bei grundlegenden
Meinungsverschiedenheiten darf Zeit keine entscheidende Rolle spielen! Und
persönliche Feindseligkeiten müssen durch gründliche Mediator-Arbeit so
abgemildert werden, daß eine Einigung möglich wird. Entscheidungen
zuungunsten wehrloser Opfer oder von Lebewesen o h n e Fürsprecher müssen
verboten werden. – Solange jedoch solche Modelle nicht eingeführt sind,
ist es ein ethisches Gebot, nach dem Prinzip der größtmöglichen Schonung bzw.
Vermeidung möglicher Opfer zu entscheiden, im Zweifelsfalle also f ü r die
potentiellen Opfer, nicht gegen sie.
4. Die mörderische Stiertortur
führt letztlich zur Frage, ob der von Politikern aus geistiger Bequemlichkeit
oder Opportunismus vielbeschworene ethische Relativismus grenzenlos sein darf
("Jeder darf entscheiden, wie er will, alles ist relativ"), also z.B.
Ex-BundeskanzlerHelmut Kohl sagen durfte, daß das Lebendbraten von Katzen oder
Hunden in Korea nicht moralisch verurteilt werden dürfe, da es sich eben
um eine "andere Kultur" handele. Hier´ist die praktische Philosophie zu einem
längst überfälligen Konsensdialog aufgerufen. Solange sie uns aber einen
diesbezüglichen Konsens schuldig bleibt, sind wir zumindest berechtigt,
wenigsten eine in sich logisch widerspruchslose Meinungsposition zu fordern. Die
aber ist nicht gegeben, wenn dieselben Politiker ihre Leitwerte immer wieder
wechseln, wenn es ihnen nützlich erscheint. Sie fordern z. B. Toleranz
gegenüber "fremden Werten", propagieren diese Toleranz jedoch auch dann, wenn
die Vertreter fremder Wertvorstellungen unsere eigenen Leitvorstellungen im
Namen eines "Gottes" oder einer sonstigen Überwertigkeit n i c h t tolerieren
oder sogar offen vernichten wollen. Solange die EU eine Tier-S c h u t z-Politik
betreiben will – und dies behauptet die EU-"Regierung" ganz deutlich – kann sie
nicht zugleich eine Politik der akzeptierten oder gar finanziell
geförderten Tier-T o r t u r betreiben.
Mein Fazit: Auf der Basis der von der
EU selbst verkündeten Werte läßt sich das unter dem Propagandabegriff Stierkampf
beschlossene spanische Stiergemetzel nie und nimmer rechtfertigen, sondern
muß auf die denkbar schärfste Opposition aller redlich
Denkenden und ethisch Empfindenden stoßen. Wer hier nur zuschaut, macht sich
schuldig.
____
* Marie-France Kuss schlägt für die
Argumentationspraxis folgende Punkte vor; ich schließe mich ihr hier gerne
an:
- Der Stierkampf ist archaisches Tun und archaisch ist
ein Synonym von Primitiv. Der Stierkampf feiert immer und immer
wieder den Sieg des Menschen über das Tier. Er läßt einen Krieg mit der
ganzen Grausamkeit eines realen Krieges vor den Augen der Zuschauer als
Ritual ablaufen und schlachtet den Besiegten, also den Schwächeren,
ab mit der Grausamkeit des Primitiven. Ist es das, was der moderne,
zivilisierte Mensch haben will? Ist das archaische
Kultur? .
- Der westliche, moderne Mensch ist sehr stolz auf die
Aufklärung. Sie hat in Spanien den Stierkampf verurteilt (Rezension über das
Buch "Spanische Geschichte" von Joseph Perez in "Le Monde" vom 10.. Januar
1997: ..."Et la corrida est condamnée par les Lumières").
- Spanische Geschichte: Die spanischen Republikaner
hatten den Stierkampf abgeschafft.
- Papst Pius V. hatte mit seiner Bulle vom Jahre 1567
den Stierkampf verboten. Die Bulle ist in Spanien nie veröffentlicht
und demnach nie befolgt worden. Dies wurde von Philipp II.
verhindert.
Wasmut Reyer
(Liga für integrative
Tierschutzpolitik
Tierschutzpolit. Sprecher
ANIMAL ALLIANCE)
-
Spanien erhebt den Stierkampf zum Kulturgut
Süddeutsche Zeitung:
7.
November 2013 14:27
Schutz für umstrittenen Brauch Spanien erhebt den
Stierkampf zum Kulturgut
Umstrittener Brauch: Stierkampf im spanischen Pamplona
(Foto: dpa)
Tierschützer nennen es eine blutige Quälerei,
Traditionalisten halten es für ein schutzwürdiges Kulturerbe: Der Stierkampf ist
auch in Spanien umstritten. Nun hat Senat in Madrid Position bezogen - und den
umstrittenen Brauch zum Kulturgut erklärt.
Spanien hat den Stierkampf zu einem "immateriellen Kulturgut" erklärt.
Der Madrider Senat verabschiedete ein entsprechendes Gesetz, das den Stierkampf
einem besonderen Schutz unterstellt.
Laut Medienberichten stimmten bei einer Abstimmung im Senat die
regierenden Konservativen für das Vorhaben. Die Sozialisten enthielten sich, und
die übrigen Parteien stimmten dagegen. Das Abgeordnetenhaus hatte
dem Vorhaben bereits zugestimmt.
Das Gesetz sieht eine Reihe von Maßnahmen zum Schutz und
zur Förderung des Stierkampfes vor. Die Regierung wird aufgerufen, einen
"nationalen Plan" für die Stierkampf-Förderung aufzustellen. Außerdem soll sie
sich dafür einsetzen, dass ein Antrag auf Aufnahme des Stierkampfes in die
Unesco-Liste des immateriellen Weltkulturerbes der Menschheit
gestellt wird.
Die Initiative zu dem Vorhaben war von einem Volksbegehren ausgegangen.
Anhänger des Stierkampfes hatten dazu 600.000 Unterschriften gesammelt. Laut
Zählungen von Tierschutzorganisationen sterben in Spanien bei etwa 2000 Stierkämpfen jedes Jahr etwa
30.000 Stiere.