Zu den grundlegenden Rechten der Tiere: Berliner Erklärung vom 20. Mai 2000
Die Situation der Tiere zu Beginn des dritten Jahrtausends ist dramatisch. Einerseits sind die wild lebenden Tiere von einem globalen Artensterben nie gekannten Ausmaßes bedroht. Andererseits steigt die Zahl der Tiere im Besitz des Menschen ständig an, die mit quälerischer Intensität genutzt und verwertet werden. Die Mechanismen eines freien europäischen Warenverkehrs und einer schrankenlosen Globalisierung des Welthandels haben die Tiere vollends zu bloßen Ressourcen, Produktionsfaktoren und Handelsobjekten degradiert. Der Zwang zur Vereinheitlichung aller Normen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner und der Verlust an demokratischen Einflussmöglichkeiten drohen jede Neubesinnung im Keim zu ersticken und erzeugen bei den Bürgern zunehmende Empörung und Enttäuschung. Was wir Hunderten von Millionen „Mitgeschöpfen“ täglich antun, zeigt sich am Beispiel der Hennen in den Legebatterien, den zur lebenslangen Monotonie und Bewegungslosigkeit verdammten Kühen, Kälbern, Schweinen und allen anderen „Nutztieren“, den tagelangen quälerischen Todestransporten von „Schlachttieren“ quer durch Europa, an den „Versuchstieren“, die - nahezu schrankenlos - erheblichen und häufig unerträglichen Leiden ausgesetzt werden, an der gentechnischen Manipulation und Patentierung des Erbgutes von Tieren sowie dem anachronistischen Missbrauch von Tieren für Hobby, Sport und Unterhaltung.
Wir, die Bewegung der Menschen für Tierrechte, verstehen die erschreckende Entwicklung der Ausbeutung und Vernichtung der Tiere und ihrer Lebensräume als eine zentrale Herausforderung der Humanität: Die spezifische Intelligenz des Menschen darf nicht länger als Rechtfertigung dafür benutzt werden, andere Lebewesen mit anderen evolutionär vorgegebenen Denk- und Verhaltensformen seiner Gewalt und Willkür preiszugeben. Sie muss im Gegenteil zu der Einsicht führen, dass die genetische Vielfalt der Arten Respekt für andere Erscheinungsformen des Lebendigen verlangt. Darüber hinaus belegen die Erkenntnisse neuerer Wissenschaften wie der. Evolutionsbiologie und der Verhaltensforschung anhand des Nervensystems, der Gene und vieler anderer physiologischer und molekularer Strukturen, dass sich die unterschiedlichsten Arten einschließlich des Menschen in ihren vitalen Grundbedürfnissen gleichen, vor allem in ihrem Willen zum Leben und in ihrem Streben, Gefahren und Schmerzen zu vermeiden und Freude und Wohlbefinden zu suchen.
Sich über die Empfindungsfähigkeit nichtmenschlicher Lebewesen hinwegzusetzen und Tiere zum bloßen Mittel für kurzfristige menschliche Zwecke zu erniedrigen, ist heute nicht mehr konsensfähig und wird zunehmend als selbstzerstörerisch erkannt. Als ersten Schritt hat das Europaparlament die Tiere als „sentient beings“ (empfindungsfähige Lebewesen) eingestuft. Ein nur verbaler, folgenloser Tierschutz ist allerdings ebenso wenig vermittelbar. Es geht um eine Erweiterung des gesellschaftlichen Wertempfindens und Handeins im Sinne einer artübergreifenden, mitfühlenden Gerechtigkeit. Wir verstehen unsere Bestrebungen somit als eine konsequente Weiterentwicklung der Menschenrechtsbewegung.
Anlässlich des Berliner Kongresses „tierrechte 2000“ präsentieren wir einen vorläufigen Katalog der Tierrechte und Menschenpflichten, der die Existenzrechte der Tiere bewahren und dem einzelnen Tier einen Anspruch auf Würde, Wohlergehen und Schutz vor menschlicher Gewalt gewähren soll. Wir beabsichtigen, diesen Katalog in allen europäischen Ländern und international zu verbreiten und uns für Aktivitäten aller Art zur Umsetzung in die Praxis zu engagieren. Wir rufen die TeilnehmerInnen in Berlin dazu auf, diese Vorschläge zu diskutieren, gegebenenfalls zu verbessern und bei Zustimmung zu unterzeichnen. In einem nächsten Schritt wollen wir uns an die internationalen Gremien und entscheidungsbefugten Einrichtungen wenden, insbesondere an die Vereinten Nationen, sowie die europäischen und nationalen Institutionen.
Art. 1 Würde des Tieres, Rechtsstellung
Die Würde des Tieres ist unantastbar.
Das Tier ist Träger grundlegender Rechte. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung der Menschen und aller staatlichen Gewalt.
Art. 2 Recht auf Leben und Unversehrtheit
Tiere haben ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
Kein Tier darf misshandelt oder gequält werden.
Tierexperimente sind verboten, ebenso genetische Manipulationen und belastende Züchtungen.
Xenotransplantation, das Klonen von Tieren oder die unnatürliche Kreuzung von Tieren verschiedener Arten sind ebenfalls unzulässig. Die Haltung, Zucht und Tötung von Tieren sowie ihr Verkauf bzw. der ihrer Produkte oder Körperteile zum Zwecke der Befriedigung menschlicher Prestige- oder Luxusbedürfnisse sind verboten.
Art. 3 Folgen der Tierwürde und Unversehrtheit
Mit der Würde der Tiere als Lebewesen ist u. a. die Zurschaustellung von Tieren zu Vergnügungsoder Belehrungszwecken nicht vereinbar.
Wett- und Schaukämpfe von Tieren untereinander oder von Menschen gegen Tiere sind wegen der Verletzung der Würde der Tiere sowie ihrer Unversehrtheit als auch wegen der Verherrlichung von Gewalt verboten.
Art. 4 Lebensraum, Wildtiere, Tierarten
Alle Tiere haben Anspruch auf den ihnen gemäßen Lebensraum. Wild lebenden Tieren darf die Freiheit nicht entzogen werden.
Die Tierarten sind vor der Ausrottung zu bewahren, insbesondere durch den Erhalt bzw. die Wiederherstellung ihrer natürlichen Lebensräume und den Schutz natürlicher Tiergemeinschaften.
Art. 5 Beachtung der Grundbedürfnisse
Sofern Tiere in menschlicher Obhut leben, ist vorrangig das Wohlergehen der Tiere und die Befriedigung ihrer angeborenen artgemäßen Bedürfnisse zu beachten.
Soweit Tiere noch zu Ernährungszwecken aufgezogen werden, darf ihre Unterbringung, Ernährung und sonstige Versorgung nicht mit tierwidrigen physischen und psychischen Belastungen, Qualen oder Schädigungen verbunden sein. Die Aufzucht von „Schlachttieren“ ist abzubauen.
Art. 6 Gleichheitsrecht der Tiere, Schutz vor Willkür
Die Unterscheidung der Tiere nach menschlichen Interessen oder Präferenzen z. B. in sogenannte Heim-, Wild- und Nutztiere mit der Folge unterschiedlicher Bewertung ist abzulehnen.
Grundsätzlich darf kein Tier in seinen elementaren Rechten gemindert werden, soweit es nicht zur Verteidigung eigener oder fremder Lebensrechte oder im Interesse des Tieres selbst erforderlich ist.
Sofern es notwendig ist, die Lebens- und Freihheitsrechte der Tiere einzuschränken, ist die jeweils schonendste Methode zu wählen, um Schmerzen, Leiden, Angst und Schäden zu vermeiden.
Art. 7 Verwirklichung der Tierrechte
Die Verwirklichung der Tierrechte ist als Grundwert und Menschenpflicht in die Verfassung der nationalen und internationalen Gemeinschaften aufzunehmen.
Die Gesetzgebungsorgane und alle, die an den politischen und parlamentarischen Entscheidungsprozessen mitwirken, sind aufgerufen, die Anerkennung und Umsetzung dieser Tierrechte voranzubringen.
Um die Einhaltung gesetzlich anerkannter Rechte der Tiere· sicher zu stellen, sind treuhänderische Kontroll- und Klagebefugnisse zugunsten weisungsunabhängiger Beauftragter und gemeinnütziger Verbände für die Tiere einzuführen.
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