Ein verfehltes Urteil.
Schächten, religiöse Minderheiten und europäische Werte
Kommentar zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über Schächten vom 15. Januar 2002
Edgar Guhde
Hatte das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil zum Schächten vom 15.6.1995 die objektive Feststellung zwingender Vorschriften einer Religionsgemeinschaft über das Betäubungsverbot beim Schlachten, das eindeutige Vorliegen von staatlicherseits zu beurteilenden Normen der betreffenden Gemeinschaft verlangt und eine individuelle Sicht, die allein auf die jeweilige subjektive - wenn auch als zwingend empfundene - religiöse Überzeugung abstellt, als mit Wortlaut, Sinn und Zweck sowie Entstehungsgeschichte des Tierschutzgesetzes unvereinbar erklärt, so hat das am 15.1.2002 verkündete Urteil des Bundesverfassungsgerichts ganz anders eben die subjektive religiöse Überzeugung jedweder Gruppen innerhalb des Islam (neben der nachzuweisenden Sachkunde) als hinreichend für die Erteilung der "Ausnahmegenehmigungen" für das betäubungslose Schächten erklärt und damit Sonderrechte zu Lasten der betroffenen Tiere eingeräumt. Es genügt, wenn Teilgruppen einer religiösen Gemeinschaft das Schächten für erforderlich halten, um die Ausnahmegenehmigungen zu erhalten. Die "konkrete Glaubensgemeinschaft" und nicht der Islam als solcher oder in seiner mehrheitlichen Ausrichtung ist nunmehr zu berücksichtigen - so abstrus und atavistisch deren Auslegungen auch sind. Postuliert wird das "Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft", das der Staat halt anzuerkennen habe.
Noch am 16.3.2000 hatte z.B. der Verwaltungsgerichtshof Kassel entschieden, die objektive Feststellung, ob das Schächten zu den zwingenden Vorschriften des Islam gehört, könne nicht dadurch ersetzt werden, daß ein regionaler Zusammenschluß von Muslimen ein religiöses Gutachten von ihm berufener Rechtsgelehrter für sich verbindlich erklärt.
Auch der Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, daß das staatliche Verbot des Schächtens keinen Verstoß gegen die Religionsfreiheit bedeute, soll nun nicht mehr gelten. Die Ausnahmeregelung des Tierschutzgesetzes (§ 4a (2) 2) wird zur Norm. Denn angesichts der Masse der anstehenden Anträge wäre es abwegig, weiterhin von "Ausnahmegenehmigungen" auszugehen. Hier wird offenbar, wie das Tierschutzgesetz, das eben nur "Ausnahmen" zuläßt, unterlaufen und ins Gegenteil verkehrt wird.
Konsequenzen, die über Schlachtpraktiken hinausreichen
Das "einigermaßen beunruhigende" Urteil des BVG würde, so der Verfassungsrechtler Hans-Hugo Klein, in der Konsequenz dazu führen, daß die "Anwendbarkeit zwingenden Rechts in die individuelle Entscheidung des Einzelnen gelegt wird." Eine bloß nachvollziehbare, nicht zu bewertende Berufung auf den Glauben genüge, und schon sei dem Urteil zufolge der Staat verpflichtet, Ausnahmen zu machen.
Noch deutlicher sogar die "taz" in ihrem Kommentar am 17.1.2002: "Religiöse Hirngespinste und anachronistische Barbareien werden toleriert, weil man Minderheiten nicht zu nahe treten will."
Auch die Taliban sind eine "konkrete Glaubensgemeinschaft", deren Lebensformen nach der Logik des BVG zu respektieren sind.
Die Transformation und tendenzielle Selbstaufgabe der auf traditionellen europäischen Werten beruhenden Gesellschaft in multikulturelle Beliebigkeit gegensätzlicher Lebensformen kann nun nicht nur schleichend, sondern offen und legalisiert vorangehen. "Der Etappensieg der islamischen Organisationen wird wohl, so viel kündigt sich bereits an, auch der Anfang einer weitreichenden Institutionalisierung islamischen Lebens in Deutschland sein." Anderen, fast genauso alten Forderungen der muslimischen Organisationen verleihe das Urteil Auftrieb. ("taz", 16.1.2002)
Eine Einbruchstelle hat das Urteil eingerichtet, ein juristisches Einfallstor geöffnet für weitere zivilisatorisch überwundene Auffassungen und Praktiken. Ein Stück Unabhängigkeit, Selbstbehauptung und Souveränität gegenüber einer gegenüber den betroffenen Tieren ahumanen Anmaßung ging verloren.
Angesichts der Schächtpraktiken kann es nicht überzeugen, das Urteil trage "zum Frieden in unserer multikulturellen Gesellschaft" bei (Künast). Sie dürften eher, weil die Gefühle der meisten Menschen hierzulande verletzend, zu einem Rückschritt der Akzeptanz des Islam führen. Wenn Muslime Handlungen begehen dürfen, die Christen und Nichtgläubigen verboten sind, kann das nur Ablehnungen in der deutschen Bevölkerung bestärken.
Integration im Sinne von Orientierung an den hiesigen Gepflogenheiten (in diesem Zusammenhang an die Regel der Betäubung warmblütiger Tiere) wird vereitelt, weil als nicht erforderlich erklärt.
Religiöser Atavismus contra Tierschutz
Nicht um die Wahrung einer spezifisch deutschen Leitkultur geht es in diesem Kontext, sondern um Wahrung und Durchsetzung eines übernationalen Leitwerts Mitleid und Empathie mit den Schwächsten und Wehrlosesten: den Tieren, um den Leitwert Tierethik, die ihre Ursprünge bereits im alten Ägypten und Indien, auch in der Antike hat. Europäische Wurzeln hat die Tierschutzethik in der Neuzeit im deutschen Pietismus. Die ersten Tierschutzbestimmungen gab es in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts in England.
Diese europäischen Wurzeln werden verleugnet, um einer bizarren Auslegung des Koran und halsdurchschneidenden Barbareien opportunistisch zu willfahren - für die es keine "zwingenden" Gründe gibt, setzt doch "zwingend" voraus, daß die Religionsangehörigen bei Nichteinhaltung der Vorschriften ausgeschlossen werden oder mit Strafmaßnahmen zu rechnen haben, was nicht der Fall ist. Und da es zum Zeitpunkt der Erstellung der Religionsbücher keine Betäubungsmöglichkeiten gab, konnten sie folglich weder erlaubt noch verboten werden.
Das in jüngster Zeit mühsam sich entwickelnde Bewußtsein von den Tieren als "Mitgeschöpfen" wurde durch das Urteil beeinträchtigt. Dem zarten Pflänzchen der Tierrechtsethik wurde ein Hieb zugunsten abstruser (pseudo)religiöser Rituale versetzt.
Eben dies ist der Kern des Problems, die Verfehlung des Urteils aus der Sicht des Tierschutzes, der den Gebräuchen religiöser Minderheiten hintangestellt wurde. Jener Teil der Gesellschaft erhält Auftrieb, für den der Schutz der Tiere unwichtig ist, hat das höchste deutsche Gericht doch diesen Schutz so eindeutig relativiert. Hinweggesetzt hat sich das Gericht über Artikel 12 des Europäischen Übereinkommens über den Schutz von Schlachttieren vom 10.5.1979 und Artikel 5 der Richtlinie 93/119/EG des Rats der EU über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Schlachtung oder Tötung vom 22.12.1993, die eine Betäubung vor dem Blutentzug vorschreiben, weil dies den Tieren weniger Schmerzen und Leiden bereitet.
Die Qualen des Schächtens
„Die Bundestierärztekammer lehnt jedes Schlachten ohne Betäubung aus Tierschutzgründen ab.“ So der Beschluß des 20. Deutschen Tierärztetags vom 23.1.1995.
Die großflächige Durchtrennung der stark innervierten Halsgegend bis zur Wirbelsäule werde erheblich als Schmerz verspürt. So Prof.Dr. Urs Schatzmann, Ordinarius für Veterinärästhesiologie am Departement für klinische Veterinärmedizin der Universität Bern (NZZ 10.10.2001).
„Demgegenüber verspürt ein Tier bei korrekter Durchführung der Bolzenschuß- oder Elektrobetäubung keine Schmerzen, da die Empfindungslosigkeit sofort eintritt. ... Das Argument, daß es sich beim Schächten um eine qualvolle Art des Tötens handelt, kann nach heutigen Kenntnissen nicht von der Hand gewiesen werden.“
Tierschutz ins Grundgesetz
Es kann nicht darum gehen, christliche Religiösität dem Islam offensiv entgegenzusetzen, sondern jedwede Art religiöser Interpretation und Tradition zurückzudrängen, die Ausbeutung, Mißbrauch und Massentötung von Tieren fördert oder ihr mit Gleichgültigkeit begegnet. Und alle, die sich gegen das Schächten wenden (etwa aus einer Motivation heraus, die nicht der Achtung vor und dem Mitleiden mit den Tieren entspringt), aber nicht gleichermaßen gegen die im "Abendland" üblichen Massenabschlachtungen mit den tagtäglichen Fehlbetäubungen in den Schlachtbetrieben der EU und sonstigen Mißhandlungen und Massakern von Tieren auftreten, sind wenig legitimiert.
Obwohl der Gesetzgeber durchaus befugt ist, über das in der Verfassung genannte Sittengesetz ethische Forderungen nach einem effektiven Tierschutz auch gegenüber vorbehaltlosen Grundrechten durchzusetzen, ohne daß der Tierschutz deshalb selbst Verfassungsrang haben müßte, stellt sich die Aufgabe, den Tierschutz im Grundgesetz ebenso zu verankern wie den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und den Absatz des § 4a des Tierschutzgesetzes, der Ausnahmen von der Regelbetäubung aus sogenannten zwingenden religiösen Gründen ermöglicht, zu streichen. Dann würde das Urteil des BVG hinfällig werden. Wenn der Tierschutz über Verfassungsrang verfügt, können die Gerichte Rechte der Tiere mit anderen Werten der Verfassung abwägen und sie nicht von vornherein hintansetzen, können solche Rechte auch den Ansprüchen der profitorientierten Wirtschaft entgegengesetzt werden.
Ein entsprechendes Aktionsbündnis "Tierschutz ins Grundgesetz" des Deutschen Tierschutzbundes und des Bundesverbandes der Tierversuchsgegner - Menschen für Tierrechte wurde gebildet und muß nun die Unionsfraktionen des Bundestags davon überzeugen, ihre bisherige Obstruktion aufzugeben und dem Beispiel von bereits elf Bundesländern zu folgen, die den Tierschutz schon in ihren Verfassungen haben.
Den Originaltext des Urteils des Bundesverfassungsgerichts finden Sie hier (nur zum privaten Gebrauch), eine zusammenfassende Pressemitteilung hier. Lesen Sie auch die Stellungnahmen der Vereinigung "Ärzte gegen Tierversuche" sowie die gemeinsame Stellungnahme von Bundesverband der Tierversuchsgegner und Deutscher Tierschutzbund. Eine Fachdokumentation von Dr. med. Werner Hartinger zum Vorgang des Schächtens aus anatomischer Sicht finden Sie hier.